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60 Jahre Flutkatastrophe: Küstenschutzexperten im Interview


Verheerende Auswirkung: Der Deichbruch bei Stade. Durch drei Bruchstellen am Schwinge-Deich strömte das Wasser hier bis Assel nach Kehdingen hinein (Bild: NLWKN).
Verheerende Auswirkung: Der Deichbruch bei Stade. Durch drei Bruchstellen am Schwinge-Deich strömte das Wasser hier bis Assel nach Kehdingen hinein (Bild: NLWKN).

NORDEN. Die schwere Sturmflut vom 16. und 17. Februar 1962 brachte Tod und Zerstörung in den Norden – und gilt als Weckruf für die Relevanz umfassender und kontinuierlicher Investitionen in den Küstenschutz. Welche Konsequenzen zogen Küstenschützer aus der Katastrophenflut – mit welchen Herausforderungen sehen sie sich heute, genau sechzig Jahre später, konfrontiert? Ein Gespräch mit der Direktorin des Niedersächsischen Landesbetriebs für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN), Anne Rickmeyer und NLWKN-Geschäftsbereichsleiter Jörn Drosten.


Frau Rickmeyer, 340 Todesopfer insgesamt an der deutschen Nordseeküste, 61 Deichbrüche alleine in Niedersachsen: Die Flut von 1962 brachte unermessliches Leid über die Küste und sorgte für enorme Schäden an Deichen, Inselschutzanlagen, Wohnhäusern und in der Landwirtschaft. Was war damals die Ursache für so dramatische Konsequenzen?


Anne Rickmeyer: Die Katastrophenflut von 1962 hat die gesamte deutsche Bucht und die großen Tideflüsse in der Tat schwer getroffen. Kennzeichnend waren lang andauernde Winde in der Nordsee aus nordwestlichen Richtungen. Diese führten zu einer Belastung der Küstenschutzanlagen durch sehr hohe Wasserstände – da der Orkan außerdem gerade zur Zeit der höchsten Wasserstände seine größte Wucht entfaltete, entwickelte sich eine starke Brandung, die den Deichen zusetzte. Die Katastrophe erfolgte in dieser Lage letztlich durch das Versagen der Deiche: Die Vielzahl an Deichbrüchen und die schlechte Erreichbarkeit der Schadensstellen für Einsatzkräfte spielten ebenfalls eine große Rolle für die schweren Auswirkungen. Als Lehre daraus wurden die Deiche deutlich verstärkt und in Höhe und Geometrie angepasst, sodass bei den Sturmfluten 1976 bei höheren Wasserständen die Folgen deutlich geringer blieben.


Sie sprechen bereits die Konsequenzen an, die man aus der Katastrophenflut zog. Mit welchen Strategien begegneten die Küstenschützer den 1962 gemachten Erfahrungen?


Anne Rickmeyer: Im Nachgang zur Sturmflut erfolgte eine kurzfristige und sehr gründliche Analyse der Schäden, Schadensmechanismen und Defizite durch eine eigens hierfür eingesetzte „Ingenieur-Kommission“. Eine wesentliche Konsequenz war die Optimierung des Deichprofils: Heute bietet dieses durch flachere Böschungen und dickere Kleischichten mehr Sicherheit gegen Sturmflutschäden durch Welleneinwirkung. Durchgehende Wege für die Deichverteidigung im Sturmflutfall sorgen zudem für deutlich bessere Rahmenbedingungen für ein Erreichen der Schadensstellen, was 1962 ein großes Problem war. Vor allem aber erfolgte auch eine konsequentere Realisierung dieser Planungsparameter, was wegen Geldnot und widerstrebenden Interessen zuvor oft nicht gelungen war.


Man reagierte zudem mit dem Bau von zahlreichen Sperrwerken an den Nebenflüssen von Weser und Elbe, wo sich die 1962er Flut besonders verheerend ausgewirkt hatte. Ein weiterer wichtiger Baustein war eine bessere, intensivere und pflichtbewusstere Pflege und Unterhaltung der Deiche: Wo früher schon mal grasende Rinder, Pferde, Gänse und Hühner anzutreffen waren, erfolgt heute vor allem eine Pflege der Grasnarbe durch Schafe. Außerdem ist man sensibler geworden, wenn es um eine bessere Überwachung durch regelmäßige Deichschauen und einen konsequenteren Schutz der Deiche gegen Beschädigung und Schwächung geht. Schließlich wurden auch Generalpläne für den Küstenschutz und Finanzierungsprogramme aufgestellt.


Herr Drosten, die Sturmflut 1962 ereignete sich mitten in den Beratungen zum Niedersächsischen Deichgesetz. Nahmen die gemachten Erfahrungen auch auf diesen Gesetzestext Einfluss?


Jörn Drosten: Niedersachsen ist tatsächlich das einzige Bundesland mit einem eigenen Deichgesetz. Dieses führte die auf viele regionale, teils jahrhundertealten Rechtsordnungen verstreuten Vorschriften zum Deichwesen in einem landesweiten, einheitlichen Gesetz zusammen. Die Sturmflut gab der Aufstellung dieses Gesetzestextes einen Schub und motivierte die Verantwortlichen in Ministerium und Landtag zu konsequenten Gesetzesformulierungen, die dem lebenswichtigen Küstenschutz einen klaren Vorrang vor anderen, individuellen Interessen einräumten.


Inwiefern führte die Katastrophenflut auch zu einer veränderten Wahrnehmung der Herausforderungen und Aufgaben des Küstenschutzes in der Gesellschaft?


Jörn Drosten: Insgesamt kam es gesamtgesellschaftlich zwischenzeitlich zu einem höheren Stellenwert des Küstenschutzes: Die verheerenden Bilder von 1962 vor Augen, erhielten seine Projekte und Ziele politischen Rückenwind und eine bessere finanzielle Ausstattung. Es war aber auch eine gesteigerte Akzeptanz etwa bei Anwohnern spürbar für Küstenschutzvorhaben und die mit ihnen verbundenen Eingriffe in Flächen, Landschaft und Ausblick.


Sie sagen „zwischenzeitlich“?


Jörn Drosten: Leider müssen wir feststellen, dass es sich um eine Entwicklung handelt, die sich in den letzten Jahrzehnten ins Gegenteil gekehrt hat, je länger die Katastrophe zurückliegt. Das mag auch damit zu tun haben, dass sich dank der getroffenen Maßnahmen ähnlich dramatische Bilder bei späteren sehr schweren Sturmfluten, die wie 1976 oder 1994 teilweise höhere Wasserstände brachten, nicht wiederholten.


Wird der Küstenschutz also gewissermaßen Opfer seiner eigenen Erfolge?


Jörn Drosten: Je länger die Katastrophe zurückliegt, desto geringer wird tatsächlich das Verständnis für die Notwendigkeit des Küstenschutzes und desto mehr schwindet die Akzeptanz für Einschränkungen als Privatperson oder bei den Vertretern anderer Belange – etwa wenn es darum geht, Flächen zur Verfügung zu stellen oder die Verbauung von Meerblick in Kauf zu nehmen. Da Küstenschutz vorsorgend ausgerichtet ist und eine lange Perspektive hat, machen es diese Ansprüche den Küstenschützern in Summe immer schwerer, dringend benötigte Deichverstärkungen umzusetzen.


Wie gut ist Niedersachsen heute und in Zukunft für Sturmfluten gewappnet?


Anne Rickmeyer: Seit 1962 haben Bund und Land mit fortwährenden Investitionen im Rahmen von umgerechnet rund 3,4 Mrd. Euro dafür gesorgt, dass wir heute das beste Schutzniveau haben, welches es in der Geschichte des Küstenschutzes je gab. Es ist aber auch klar: Küstenschutz wird eine Daueraufgabe bleiben, die kein Verharren im Status Quo duldet. Das erleben wir auf den besonders exponierten Ostfriesischen Inseln, die durch ihre Wellenbrecher-Funktion letztlich auch das niedersächsische Festland schützen. Das erleben wir aber auch an der Elbe, wo die in den 60er und 70er Jahren als Reaktion unter anderem auf die 1962er Flut errichteten Sperrwerke derzeit wie an der Ilmenau wieder an die aktuellen Bedarfe des Küstenschutzes angepasst werden. Über allem steht der Generalplan Küstenschutz, der die Küstenschutzstrategie und die erforderlichen Maßnahmen beschreibt.


Die Herausforderungen werden durch den Klimawandel künftig noch steigen. Seine Auswirkungen, etwa wenn es um den prognostizierten Meeresspiegelanstieg geht, fließen bereits heute in die Überlegungen der Küstenschützer ein: Bei der Konzeption von Küstenschutzanlagen wurde das hierfür gedachte Vorsorgemaß für zukünftige Auswirkungen des Klimawandels erst im vergangenen Jahr von 50 auf 100 Zentimeter erhöht. Der neue niedersächsische Klimadeich ermöglicht darüber hinaus für den Fall ungünstiger Entwicklungen eine Deicherhöhung um einen weiteren Meter. All diese Maßnahmen brauchen aber gerade in Zeiten rasant steigender Baupreise auch eine entsprechende finanzielle Ausstattung – der Bedarf an Geldmitteln zum Schutz der Niedersächsischen Küste wird künftig sogar noch steigen. Bedenkt man, dass Küstenschutzanlagen schon heute rund 6.500 Quadratkilometer und damit 14 Prozent der Landesfläche, 1,1 Millionen Menschen und Sachwerte im dreistelligen Milliardenbereich schützen, ist jeder Euro, der in den Küstenschutz fließt, gut investiert.


Zu den Personen:


Anne Rickmeyer leitet seit Mitte 2016 als Direktorin den Niedersächsischen Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (kurz NLWKN). Der NLWKN ist in ganz Niedersachsen mit elf Betriebsstellen und zahlreichen weiteren Standorten und Stützpunkten präsent.


Jörn Drosten leitet innerhalb des NLWKN den Geschäftsbereich Planung und Bau. Dieser ist unter anderem für die Küstenschutzplanungen des Landes für die Ostfriesischen Inseln zuständig. Am Festland setzt er landeseigene Maßnahmen um und ist Ansprech- und Planungspartner für die 22 Hauptdeichverbände.



Anne Rickmeyer.
Anne Rickmeyer. Foto: Lippe/NLWKN

Jörn Drosten
Jörn Drosten. Lippe/NLWKN


Wie hier in der Krummhörn in Ostfriesland werden die niedersächsischen Deiche bei Bedarf fortlaufend erhöht und verstärkt. Dabei setzt man heute auf ein im Vergleich zu 1962 optimiertes Deichprofil (Bild: NLWKN).
Wie hier in der Krummhörn in Ostfriesland werden die niedersächsischen Deiche bei Bedarf fortlaufend erhöht und verstärkt. Dabei setzt man heute auf ein im Vergleich zu 1962 optimiertes Deichprofil (Bild: NLWKN).


Hintergrund:

Ausführlich zum Ablauf und den Ursachen der Katastrophe von 1962:

Auch die höchsten Deiche geben keine absolute Sicherheit: Rückblick auf die Sturmflut 1962 | Nds. Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz


Zum Thema Küstenschutz und Klimawandel:

Klimawandel: Fundierte Datenbasis für neue Handlungskonzepte | Nds. Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz

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