CELLE. Brigitte Siebe arbeitet in der Arbeitslosenberatung der Diakonie Celle. Im Interview spricht sie über das "völlig falsche Hartz-IV-Klischee", Leben am Existenzminium und warum diese Gesellschaft mehr Empathie benötigt.
Brigitte Siebe, wie sind Sie bei der Arbeitslosenberatung gelandet?
Brigitte Siebe: Ich bin 1958 in Helmstedt geboren und war erst bei einer Bank beschäftigt. 1987 fing ich im Kirchenkreis Celle an, zunächst bei der Schuldnerberatung. Ende der Achtziger gab es in Celle viele mittelständische Unternehmen aus der Baubranche, dazu das Telefunkenwerk. Viele dieser Unternehmen gingen bankrott, entsprechend viele Menschen stellten Anträge für Arbeitslosengeld. Das war und ist vor allem ein besonderer bürokratischer Akt. Schon damals bekamen Ältere nur sehr schwer einen neuen Arbeitsplatz. Die Situation verschärfte sich mit der Einführung des sogenannten Hartz IV.
Welchen Einfluss hatte Hartz IV auf Ihre Arbeit?
Hartz IV bedeutet, dass man in der Regel nach einem Jahr ohne Arbeit oder nur mit geringen Einnahmen – also, wenn das Gehalt zu niedrig ist – Grundsicherung beantragen muss. Dabei wird nicht mitberechnet, was man vorher geleistet hat. Viele Menschen empfinden das als Abwertung ihrer Lebensleistung, und das hat auch psychische Auswirkungen.
Können Sie dafür ein Beispiel geben?
Max Mustermann hat 35 Jahre lang gearbeitet, dann wird er arbeitslos, weil seine Firma pleitegeht oder er krank wird. Auf einmal wird er so behandelt wie jemand, der noch nie in seinem Leben gearbeitet hat. Die Arbeitslosigkeit hat Auswirkungen auf die Rente, durch die Ausfallzeit wird er später in seinen Rentenansprüchen abrutschen. Außerdem hat er es schwerer, wieder in einen Job reinzukommen. Gleichzeitig empfinden es die Menschen als unangenehm, dass viele über den Umstand der bezogenen Grundsicherung informiert werden, die die persönliche Situation eigentlich nichts anzugehen hat – zum Beispiel die/der Vermieter*in, bei Kindern die Lehrer*innen und so weiter.
Welche Rolle spielt dabei das typische Hartz-IV-Klischee?
Das darf man dabei nicht unterschlagen. Die Außendarstellung ist in der Regel katastrophal und macht keinen Unterschied, ob da jemand Grundsicherung erhält, der Jahrzehnte gearbeitet hat oder das System ausnutzen möchte. Das ist rufschädigend. Mich macht es ratlos, dass seit vielen Jahren so unreflektiert über das Thema berichtet wird. Der knallige Name tut sein Übriges – ich erinnere mich an ein Referat im Kirchenkreis kurz nach der Einführung von Hartz IV. Als ich das erste Mal diesen Namen gehört habe, war mir klar, dass es sich im Volksmund durchsetzen wird.
Wie erleben Sie die betroffenen Menschen in Ihrer täglichen Arbeit?
Ich habe eine Klientin, Anfang 40, die durch eine Krankheit zu 100 Prozent erwerbsgemindert ist und ihren Sohn im Teenager-Alter allein großzieht. Sie bekommt 500 Euro Erwerbsgeminderten-Rente – das reicht nicht zum Leben. Das wird aufgestockt durch die Grundsicherung durch das Sozialamt der Stadt. Als ihr Sohn 15 wurde, musste der sich selbst beim Arbeitsamt melden, um Grundsicherung für Arbeitssuchende zu beantragen bzw. in seinem Fall dem Jobcenter eine Schulbescheinigung vorlegen, um zu beweisen, dass er noch aufs Gymnasium geht. Diese Prozedur muss er bis zum Schulabschluss jedes Jahr wiederholen. Man kann sich vorstellen, was das mit einem so jungen Menschen macht. Das sind Absonderlichkeiten des Systems, die ich nicht begreife.
Welche Auswirkungen hat das auf Ihre Klient*innen?
Viele Langzeitarbeitslose fühlen sich von der Gesellschaft nicht beachtet und zum Teil sogar verachtet. Sie sehen sich als Totalversager, als Menschen zweiter Klasse. Das darf nicht sein, es muss immer eine zweite oder dritte Möglichkeit geben, um wieder zurück in die Arbeitswelt zu gelangen. Zum Beispiel sollten sich Unternehmen Gedanken darüber machen, wie sie auch leistungsschwächere Menschen unterbringen können.
Wofür müssen Sie in den Beratungen die meiste Energie aufwenden?
Den täglichen bürokratischen Wahnsinn. Sehr viel Arbeit geht dafür drauf, um den Menschen dabei zu helfen, die Bescheide vom Amt überhaupt zu verstehen. Die Hälfte der Ratsuchenden hat einen Migrationshintergrund. Die meisten sind erst seit einigen Jahren in Deutschland und versuchen alles, um an Arbeit zu kommen. Denen ist auch in der Regel egal, welche Arbeit das ist, nur haben sie keine Ahnung, was sie bei den Behörden alles angeben müssen. Und wenn dann etwas nicht klappt und sie eine Vorladung bei der Polizei bekommen, fühlen sie sich wie Straftäter.
Ein großes Problem ist die ungerechte Einkommensverteilung. Vor welchen Problemen stehen Menschen, die zwar arbeiten, aber deren Lohn nicht reicht?
Tatsächlich bilden Langzeitarbeitslose den geringsten Anteil, wenn neue Zahlen von Menschen mit Grundsicherung veröffentlicht werden. Den Großteil bilden jene Bürger*innen, deren geringes Einkommen vom Staat aufgestockt wird, damit es irgendwie zum Leben reicht. Zum Beispiel: Eine Teilzeitkraft im Kindergarten mit eigenem Kind bekommt 700 Euro Netto – das reicht nicht aus. Sie wird aufgestockt, doch dabei wird alles eingerechnet und abgezogen, auch das Kindergeld. Letztlich schafft sie es gerade so über die Runden. Die Folge: Immer mehr Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze, jedes fünfte Kind lebt in Armut. Hinzu kommt, dass die Arbeitslosigkeit oft dazu führt, dass alte Verbindlichkeiten aus besseren Zeiten nicht mehr geleistet werden können. Zum Beispiel, wenn jemand noch Kredite für Haus, Wohnung oder Auto abbezahlen muss. Meiner Erfahrung nach haben die Banken zwar kein Interesse daran, die Existenzen ihrer Kunden zu zerstören, aber irgendwann wollen auch die ihr Geld wiederhaben. All das zwingt viele Menschen, in einer Art Parallelwelt zu leben. Sie tragen gebrauchte Kleidung, sollen Pfand sammeln oder werden an die Tafeln verwiesen. Das sind gute Hilfsangebote, aber in einer so reichen Gesellschaft sollte das nicht der Weg sein.
Was macht den Ratsuchenden am meisten Angst?
Gar nicht mal der reduzierte oder kaum vorhandene Konsum, sondern die bürokratischen Komplikationen. Stimmen meine Bescheide? Was passiert, wenn ich einen Fehler mache? So etwas führt zu Ablehnung und Misstrauen.
Was würden Sie sich für die Zukunft wünschen, wenn es um das Thema Arbeitslosigkeit geht?
Die Diakonie fordert seit Jahren eine richtige Berechnung der Regelsätze. Was muss ein Mensch in unserem Land haben, damit er auch am Ende der finanziellen Nahrungskette würdevoll leben kann. Der aktuelle Satz ist deutlich zu wenig. Ich wünsche mir eine ehrliche und faire Bestandsaufnahme, wie es eigentlich wirklich in unserem Land aussieht. Außerdem würde ich mir mehr Empathie wünschen. Dass die Menschen sich darüber Gedanken machen, wie es wohl für einen anderen Menschen sein muss, wenn sie oder er etwas zu Essen aus der Mülltonne fischt, statt gleich einzufordern, dass diese Person doch mal arbeiten gehen sollte. Arm sein ist wie eine ansteckende Krankheit – niemand möchte etwas damit zu tun haben. Und wenn schon die Grundsicherung keine wirkliche Sicherheit bietet, macht das die Menschen kaputt.
Sie sind in diesem Bereich bereits seit dreieinhalb Jahrzehnten tätig – welches Fazit ziehen Sie nach so vielen Jahren?
Ich habe in all der Zeit viel mehr Menschen wieder auf die Beine kommen sehen als umgekehrt. Die Chance ist da – aber sie wird einem sehr schwer gemacht. Arbeitslosigkeit ist ein Thema, mit dem Politiker*innen, egal aus welcher Partei, im Zweifel nichts zu tun haben wollen. In all den Jahren hat sich nur ein namhafter Politiker öffentlich für Arbeitslose eingesetzt. Das war Richard von Weizäcker, der in einer seiner Weihnachtsansprachen dazu aufrief, Arbeitslose nicht schlecht zu reden. Wir brauchen mehr Verständnis für die einzelnen Lebenssituationen, statt das übliche Hartz-IV-Klischee durchzukauen. Der angeblich typische „Hartzer“ – männlich, übergewichtig, alkoholkrank – macht nicht mal ein Promille aus. Unter dieser Vorverurteilung leiden die Betroffenen. Ich habe schon zweimal Menschen von den Schienen geholt, das möchte ich nie wieder tun müssen. Interview: Alex Raack