CELLE. „Jeden Tag gilt es aufs Neue, Flagge zu zeigen und die Werte dieser Gesellschaft zu verteidigen!“ Ein deutlicher Appell, den Ahmad Mansour am Donnerstagabend an sein Publikum im mit gut 1000 Zuschauern vollbesetzten Großen Saal der Kongress Union richtete. Auf Einladung der beiden Celler Rotary-Clubs war der TV-bekannte deutsch-israelische Psychologe und Autor nach Celle gekommen, um über Herausforderungen für die Demokratie durch den politischen Islam in der Folge des Überfalls der palästinensischen Terrorgruppe Hamas auf Israel am 7. Oktober vergangenen Jahres zu reden. Und darüber, dass jeder Einzelne für unsere Demokratie eintreten müsse.
„Ich will nicht so enden wie mein Vater“
Beim schlimmsten Pogrom an Juden seit dem Ende des Holocaust waren damals annähernd 3000 schwerbewaffnete Hamas-Kämpfer nach Israel eingedrungen, hatten mehr als 1200 Menschen ermordet und gut 200 in den Gazastreifen entführt. Seit dem Angriff und der darauf folgenden militärischen Reaktion Israels kommt es in Westeuropa und Nordamerika zu antisemitischen Protesten arabischer Migranten und linksextremer Hamas-Unterstützer. „Wer diese Leute als Freiheitskämpfer bezeichnet hat nicht alle Tassen im Schrank“, sagt dazu der ansonsten abwägend argumentierende Mansour. Er hat selbst palästinensische Wurzeln und konnte sich selbst erst als junger Erwachsener während des Studiums der Psychologie, Soziologie und Anthropologie in Tel Aviv und Berlin vom Hass auf Juden befreien, in dem er von seinem Vater erzogen worden war. „Ich will alle Menschen als Menschen wahrnehmen und nicht so enden wie mein Vater“, sagte er seinem Celler Publikum über seine Motivation, sich gegen Radikalisierung, Unterdrückung im Namen der Ehre und Antisemitismus in der islamischen Gemeinschaft einzusetzen.
"Pogrome in Europa dürfen wir nicht tolerieren“
Vor allem in den sozialen Netzwerken laufe eine große Propagandamaschinerie, um die Menschen zu radikalisieren, warnt Mansour. Das hat Folgen: Das zeitgleich zu Mansours Celler Vortrag stattfindende Basketball-Spiel zwischen Alba Berlin und Maccabi Tel Aviv musste in der Bundeshauptstadt von rund 1800 Polizeikräften geschützt werden, um Gewaltattacken gegen israelische Fans wie Anfang des Monats in Amsterdam zu verhindern. „Ich dachte, dass Pogrome in Europa nie wieder passieren. Das dürfen wir nicht tolerieren!“ Im Gegenteil wäre doch Versöhnung im Sinne der Palästinenser – und nicht „from the River to the Sea“, betont Mansour. „Solche Kräfte in Europa tun den Palästinensern keinen Gefallen.“
Mit dem furchtbaren Wüten am 7. Oktober 2023 hätten die Islamisten das Ziel verfolgt, die Bevölkerung in moderaten arabischen Ländern zu radikalisieren, erklärte Mansour, selbst Muslim. Und nicht nur Arabien – der politische Islam habe nun die gesamte westliche Welt im Visier: „Das war ein Angriff auf unsere Erinnerungskultur. Ein Angriff darauf, wie wir Geschichte verstehen“ - in dessen Folge es zum Schulterschluss linksextremer Akteure von Identitätspolitik und postkolonialer Theorie mit Antisemiten gekommen sei. Die lautstarken und teils gewalttätigen Proteste in Paris, London oder Berlin haben Folgen. So habe es in Frankreich in den vergangenen 13 Monaten 1000 Prozent mehr antisemitische Vorfälle gegeben, in Deutschland mehrere 100 Prozent mehr, resümiert der wegen seiner wissenschaftlichen Expertise und seiner persönlichen Erfahrung mit radikalislamischen Strukturen gefragte Experte. „Mittlerweile denkt die Hälfte der deutschen Juden darüber nach, auszuwandern.“
"Größte Radikalisierungswelle, die ich je erlebt habe“
Es gehe um Gefühle. Und um moderne Mediennutzung: „Die absolut emotionalisierte Bildersprache bei Tiktok führt zur Radikalisierung.“ Unter den rund fünf Millionen Muslimen in Deutschland befänden sich laut Verfassungsschutz 30.000 Islamisten – eine kleine Minderheit, die aber sehr aktiv in den sozialen Medien sei. „Dort entscheiden Algorithmen, was wir sehen!“ Und viel zu selten würden in diesem Medien-Milieu Gegenpositionen bezogen. „Wo sind die Demokraten? Wo die Politiker? Wo ist die Bundeszentrale für politische Bildung?“ Diese Entwicklung hat zu einer massiven Entfremdung zwischen jungen Muslimen und der deutschen Gesellschaft geführt, beobachtet Mansour „von Wut zerfressene Seelen junger Menschen“. „Wir sind mitten in der größten Radikalisierungswelle, die ich je erlebt habe.“
Nein, dem Referenten ging es nicht darum, seinem Celler Publikum Angst zu machen. „Aber wir müssen Konzepte entwickeln“, fordert Mansour. „Demokratie ist etwas Großartiges! Das Grundgesetz ist etwas Großartiges! Wir müssen um jede Seele in dieser Gesellschaft kämpfen!“
Jeder müsse Haltung zeigen, Farbe bekennen auch bei schwierigen Themen, fordert Mansour. „Wir müssen auch wieder lernen, andere Meinungen zu ertragen.“ In den vergangenen Jahren sei propagiert worden, dass Demokratie Konsens bedeute. „Aber Demokratie ist Streit, der Austausch von Argumenten“, betont der Deutsch-Israeli. Verbindendes gesellschaftliches Element sei dabei das Einfühlungsvermögen in den jeweils Anderen. „Doch seit den Corona-Lockdowns stelle ich bei Besuchen in Schulen massive Empathie-Defizite fest.“
„Der Rechtsstaat muss Zähne zeigen“
Es geht um die Gefühlswelt. „Integration bedeutet auch, emotional anzukommen in unserem Wertesystem“, sagt Mansour. „Wenn wir Leute aufnehmen wollen, dann müssen wir empathisch auf sie zugehen und das Gespräch mit ihnen auf Augenhöhe suchen. Klar kommunizieren, was unsere Werte sind: Herzlich willkommen, Sie können hier dazugehören. Wenn Sie aber auf der Straße den Mord an 1200 Menschen feiern, dann dürfen Sie hier nicht bleiben!“ Dann müssten die Menschen zeitnah die Konsequenzen ihres Handelns spüren, denn sonst ändere sich nichts: „Der Rechtsstaat muss Zähne zeigen.“
„Ich bin nicht pro Israel, ich bin nicht pro Palästinenser, ich bin pro Mensch“, hatte Mansour schon gleich zu Beginn seines Celler Vortrags betont. „Pro Mensch“ bedeute, hinzuschauen. Flagge zu zeigen gegen Desinformation. „Extremisten profitieren davon, dass so viele in der Gesellschaft bei so vielen Themen schweigen.“ Sprachlosigkeit führe zu Radikalisierung. Mansour selbst ist den entgegengesetzten Weg gegangen: „Ich rede über mein Leben. Ich bin in diesem Konflikt groß geworden.“