In der letzten Woche habe ich eine starke Frau kennengelernt. Mit „stark“ meine ich engagiert und verantwortungsbewusst. Im Beruf steht sie „ihre Frau“ seit vielen Jahren, sie ist kommunalpolitisch tätig und hat den Vorsitz in einer karitativ ausgerichtenten Einrichtung inne. „Hut ab“, habe ich gedacht.
Solchen Menschen brauchen wir, die bereit sind, sich für eine gute Sache einzusetzen. Ehrenämter sind heutzutage mit viel Arbeit verbunden, aber bringen in der Regel wenig Ehre ein. Im letzten Herbst zum Beispiel, da reinigt abends ein Mitarbeiter aus unserem Bauteam in der Kirchengemeinde die Dachrinnen vom Gemeindehaus, Bekannte fahren mit dem Rad vorbei – und einer ruft im zu: „Na, Du hast wohl nichts Besseres zu tun?“ Das hat gesessen und zeigt, wie hoch das Ehrenamt bei manchen im Kurs steht.
Aber wieder zurück zu der starken Frau. Als wir eine Weile miteinander gesprochen hatten, habe ich, je länger da Gespräch dauerte, desto deutlicher gespürt, wie schwer es dieser Frau offenbar fällt zu akzeptieren, dass sie nicht allein die ganze Last der Welt tragen muss. Es sind auch andere Menschen da, die nach besten Wissen und Gewissen handeln.
Da ist mir wieder ein Satz in den Sinn gekommen, der sich für mich schon oft bestätigt hat. Er lautete: Deine Stärke ist auch das Einfallstor für Deine Schwäche. Das klingt beim ersten Hören ziemlich paradox, aber meine „starke Frau“ könnte das Paradebeispiel für die Wahrheit dieses Satzes sein. Sie will alles in der Hand haben, so dass sie am Ende gar nicht merkt, wie sie mit ihrem Engagement andere an die Wand drückt und demotiviert. Aus der Verantwortungsbereitschaft – eine bewundernswerte Haltung – kann eine Überheblichkeit, und ja, ein Größenwahn erwachsen, der am Ende zu nichts Gutem führt.
Oder – ein anderes Beispiel: Ich habe einen Bekannten im Sinn, der alles sehr sorgfältig abwägt, der sehr vorsichtig urteilt, der im übrigen gut zuhören kann, was ja heute eine seltene Kunst ist – also der Bekannte verkörpert für mich mit seiner besonnenen Art etwas sehr Wertvolles. Er steht in meinen Augen für eine großartige Stärke – aber ich sage Euch: Wenn es darum geht, eine Entscheidung zu treffen, ob im Beruflichen oder im Privaten, da scheitert er regelmäßig. Seine Stärke, seine Besonnenheit ist das Einfallstor für seine Schwäche, die Tatenlosigkeit und Unentschlossenheit.
Wenn es so richtig heißt, dass wir an unseren Schwächen arbeiten müssen, dann sollten wir gerade unsere Stärken im Blick haben und schauen, inwieweit hier eine Schwäche vor der Tür lauert, die uns und anderen das Leben schwer macht. Ich finde, das Leben ist gerade schon kompliziert und anstrengend genug – wir sollen einfach etwas vorsichtiger sein, wenn es um unsere Stärken geht. Bleibt behütet.
Pastor Uwe Schmidt-Seffers