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Audrey-Lynn Struck

„Erst Corona, jetzt der Krieg...“ – Appell zur Solidarität mit allen jungen Menschen


Kind traurig Fenster
Foto: Joaquin Corbalan / stock.adobe.com


HANNOVER. Die Niedersächsische Kinder- und Jugendkommission hat sich in ihrer gestrigen Sitzung dem Thema „Erst Corona, jetzt der Krieg… – Aufwachsen unter besonderen Belastungen" angenommen und hierzu ein Positionspapier erarbeitet und einstimmig verabschiedet - exklusiv auf CELLEHEUTE unzensiert und unkommentiert:

Einstimmiger Beschluss der Niedersächsischen Kinder- und Jugendkommission vom 16.03.2022 Seit mehr als zwei Jahren leben auch junge Menschen in Niedersachsen unter besonderen Belastungen: die Klimakrise, die Corona-Pandemie und jetzt der Krieg in Europa belasten Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in ihren Gedanken, in ihren Beziehungen, in ihren Gestaltungsräumen, in ihrem alltäglichen Leben, in ihren Bildungskarrieren. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene benötigen in diesen Zeiten besondere Beachtung und besondere Unterstützung – und zwar unabhängig davon, ob sie in Deutschland geboren sind, aktuell als Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine oder anderen Ländern dieser Welt zu uns nach Niedersachsen kommen oder bereits längere Zeit mit unterschiedlichen Aufenthaltsstatuten bei und mit uns leben. Viele dieser jungen Menschen tragen ihre Themen und Belastungen in die Öffentlichkeit, in dem sie sich in diesen Tagen an den großen Schüler*innen-Demonstrationen auch in Niedersachsen beteiligen. Sie gehen zu Tausenden auf die Straße und demonstrieren gegen den Krieg. Auch engagieren sich junge Menschen für andere Menschen. Sie übernehmen Einkaufsdienste für alte Menschen, begleiten Geflüchtete, sammeln Spenden, sind in Sportvereinen und Jugendverbänden, in Kirchen und Wohlfahrtsorganisationen, in Schulen und Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit für andere im Einsatz. Junge Menschen sind einerseits engagiert und aktiv, anderseits besonders belastet und in ihren Lebensentwicklungen eingeschränkt oder auch bedroht. Junge Menschen haben wichtige Impulse für unsere Gesellschaft und diese Welt – und fühlen sich trotzdem nicht gehört. Als parteipolitisch unabhängige Niedersächsische Kinder- und Jugendkommission wenden wir uns daher mit einem aktuellen Appell in Zeiten einer Pandemie und eines schrecklichen, verbrecherischen Krieges in der Ukraine an die politisch Verantwortlichen in Niedersachsen: Wir appellieren daran, junge Menschen umgehend in den Fokus des politischen Handelns zu rücken! Ausgangspunkt unseres Appells ist die UN-Kinderrechtskonvention. Wir verweisen ein weiteres Mal auf „Artikel 3: Wohl des Kindes“i. Dort steht in Absatz (1): „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleich viel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“ii Deutschland hat diese Konvention ratifiziert. Sie hat damit vollumfassend Geltung – auch in Niedersachsen.

Unser Appell: Junge Menschen brauchen Raum zum offenen Austausch Junge Menschen brauchen besonders vor dem Hintergrund der aktuellen Belastungen Orte, an denen sie sich über ihre Ängste und Zukunftssorgen austauschen können. Sie brauchen Zeit- und Freiräume, in denen sie sich gegenseitig zuhören können und Erwachsene als zugewandte Gesprächspartner*innen finden. Diese Orte können sie in Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe finden – insbesondere in der Kinder- und Jugendarbeit und der Schulsozialarbeit. Es ist wichtig, diese Orte offen zu halten! Weiterhin werden langfristig gesicherte Personalstellen auf allen Ebenen benötigt. Das ist weder in der Kinder- und Jugendarbeit noch in der Schulsozialarbeit in Niedersachsen derzeit der Fall. Schulen und Kindertageseinrichtungen als zentrale institutionelle Gefüge des Kinder- und Jugendlebens nehmen mehr denn je eine wichtige Funktion im Aufwachsen ein. Hier treffen Kinder und Jugendliche jeden Tag zusammen. Wir appellieren, in diesen Gefügen unverzweckte Zeit zu geben, welche freie Äußerungen der jungen Menschen, das gegenseitige Zuhören und eine Ermutigung ermöglichen. Das muss in Schulen in klaren Zeitfenstern frei von Bewertungen und Zensuren möglich sein. Gerade jetzt ist es noch wichtiger als sonst, Lehrpläne zu entschlacken und Freiräume zum Äußern von Sorgen und Ängsten und zum informellen Miteinander der jungen Menschen zu geben. Junge Menschen sind selbst von der Pandemie und den kriegerischen Auseinandersetzungen betroffen, sie nehmen schreckliche Bilder in den Sozialen Medien wahr, sorgen sich um die Gesundheit oder das Leben ihrer (nahen) Mitmenschen. Es ist wichtig, dass Schulen in diesen Zeiten den Raum dafür ermöglichen, dass junge Menschen mit Lehrer*innen und Sozialarbeiter*innen über alle diese Belastungen sprechen können. Zu diesem Austausch gehört auch, sich offen in die Gesichter schauen zu können. Deshalb ist es wichtig, dass junge Menschen zu den ersten gehören, die sich unter den gelockerten Corona-Bedingungen wieder ohne Masken begegnen dürfen. Dies gilt auch für Schulen. Unser Appell: Geflüchtete Kinder und Jugendliche aus der Ukraine bedingungslos unterstützen Viele tausende Kinder und Jugendliche sind in diesen Tagen auf der Flucht. Sie erleben für uns unvorstellbares Leid. Hunger, Zerstörung, Gewalt und Tod sind von heute auf morgen Teil ihres Lebens geworden. Sie verlieren Rahmungen, die ihnen gerade noch die zum Aufwachsen nötige Sicherheit gegeben haben. Dazu gehören ihr Zuhause, ihre Freund*innen und Verwandten, institutionelle Gefüge wie Schulen und Kindertageseinrichtungen, aber auch ihre Bildungschancen und ihre gewohnten Tagesabläufe. Viele dieser jungen Menschen werden auf der Flucht traumatisiert. Sie und ihre Familien benötigen unser aller Unterstützung. Es muss schnellstmöglich das Angebot geben, diese Kinder und Jugendlichen in Schulen und Kindertageseinrichtungen aufzunehmen, ihnen Unterstützung durch therapeutische Hilfe und Begleitung bei der Gestaltung eines neuen Alltags zu geben. Dazu gehört auch, Wohnraum für die jungen Menschen und ihre Familien in Niedersachsen zu schaffen. Aus Gründen des Kinderschutzes sollen unbegleitete Minderjährige in Gasthaushalten nur unter Beteiligung der örtlichen Jugendämter untergebracht werden. Das alles wird nur gelingen, wenn wir alle unterstützend aktiv sind. Politisch Verantwortliche wie alle zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, aber auch staatliche Systeme und die Wirtschaft sind aufgefordert, zu zeigen: Wir lassen diese jungen Menschen und ihre Familien nicht allein! Das Engagement vieler junger Menschen für geflüchtete Menschen muss in politischen Reden Beachtung finden. Zielführend wäre eine Aufnahme dieser Leistungen in Schul- und Ausbildungszeugnisse.

Unser Appell: Angebote der Kinder- und Jugendhilfe sind Schutz- und Ermöglichungsorte für junge Menschen Zwei Jahre Corona haben die Bedeutung von Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe deutlich hervorgehoben. Sie sind ein wichtiger Schutz- und Ermöglichungsort für junge Menschen. Hier finden Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene qualifizierte Ansprechpersonen außerhalb familiärer Strukturen. Insbesondere die knapp 15.000 jungen Menschen, die in Niedersachsen in voll- oder teilstationären Einrichtungen der Hilfen zur Erziehung untergebracht sindiv, haben in der Pandemie durch die coronabedingten Kontaktbeschränkungen zusätzliche Erschwernisse erlebt. Das gilt auch für junge Menschen, die in Einrichtungen der Behindertenhilfe leben oder psychiatrische Aufenthalte in Kliniken in Anspruch nehmen müssen. Wir fordern dazu auf, genau hinzuschauen, welche Regelungen hier Bestand haben müssen und dürfen sowie zu berücksichtigen, dass diese jungen Menschen besonderen Schutz, eine kontinuierliche Begleitung und besondere Förderung zur Überwindung coronabedingter Benachteiligungen benötigen. Auf die angesprochenen Einrichtungen werden mit Blick auf geflüchtete junge Menschen neue Herausforderung zu kommen.v Es ist erforderlich, Plätze aufzustocken und Fachkräftestellen kontinuierlich abzusichern. Corona hat gezeigt, dass die Ausstattungen unzureichend sind. Die Anzahl der geflüchteten Kinder stellt auch Kindertageseinrichtungen vor Herausforderungen. Deshalb ist es notwendig, ergänzende Angebote beispielsweise in Form von Spielgruppen und eine Flexibilisierung der Raumnutzung zu ermöglichen. Mehr als 80.000 pädagogische Fachkräfte arbeiten in Niedersachsen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, wozu die Hilfen zur Erziehung und die Kindertageseinrichtungen ebenso zählen wie Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit, Beratungsstellen oder die Jugendsozialarbeit.vi Diese Fachkräfte haben durchgängig ihren Dienst im Interesse der jungen Menschen und der Gesellschaft geleistet. Während andere sich im Homeoffice schützen können, sind sie weiter im direkten, nahen Kontakt mit jungen Menschen tätig und begeben sich selbst damit in gesundheitliche Risiken. Wir fordern dazu auf, dieses Engagement politisch wertzuschätzen. Studien zeigen, dass Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit und die Jugendsozialarbeit Vieles von dem aufgefangen haben, was unter anderem das Schulsystem in der Pandemie nicht leisten konnte.vii Es ist wichtig, das ernst zu nehmen und diese Orte als Schutz- und Ermöglichungsraum von jungen Menschen zu stärken. Auch auf diese Angebote der Kinder- und Jugendhilfe kommen mit dem Krieg in der Ukraine neue Herausforderungen zu. Bei der gesellschaftlichen Integration von jungen Geflüchteten aus Syrien haben sie einen wichtigen Beitrag geleistet. Wird die Kinder- und Jugendarbeit und die Jugendsozialarbeit endlich finanziell auskömmlich ausgestattet, können sie auch für die Leidtragenden der russischen Angriffe und Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine eine wichtige niedrigschwellige Anlaufstelle, ein Schutz- und Bildungsort sein. Unser Appell: Die Stimmen junger Menschen müssen gehört werden Wir haben als Kommission bereits häufiger darauf hingewiesen, dass die Stimmen von jungen Menschen in Niedersachsen nicht genügend gehört werden. Studien belegen auch das.viii Die Kommission setzt sich dafür ein, dass die Partizipation von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in politischen Prozessen in Niedersachsen ernst genommen wird und sich entsprechend wandeln muss.ix Junge Menschen sind nicht die Zukunft, sie leben in der Gegenwart. Aber sie wollen die Zukunft mitgestalten. Das bedeutet zugleich, dass Erwachsene Macht abgeben und die Anliegen der jungen Menschen ernst nehmen. Wir appellieren erneut an die Landesregierung in Niedersachsen, den Weg für den ernsthaften Einbezug von jungen Menschen und ihren Anliegen zu bereiten.

Unser Appell: Eintreten für Frieden in Europa, die Universalität der Menschrechte und den Schutz junger Menschen Wir wenden uns an die politisch Verantwortlichen in Niedersachsen mit der Bitte, alles dafür zu tun, dass der Krieg in Europa bald endet. Die Universalität der Menschenrechte ist ein hohes Gut. Dafür müssen wir gemeinschaftlich mit starken Worten eintreten, wo immer wir das können.x Wir appellieren daran, die schreckliche Situation für Kinder an vielen anderen Stellen dieser Erde nicht aus dem Blick zu verlieren, sei es in Afghanistan oder Syrien sowie vielen anderen Konfliktherden dieser Welt. Es sind immer zuallererst Kinder und Jugendliche, die unseres Schutzes bedürfen. Die UN- Kinderrechtskonvention regelt diesen. Artikel 6 der UN-Kinderrechtskonvention benennt „ein angeborenes Recht auf Leben“ eines jeden Kindes. Es wird zugesichert, dass die Vertragsstaaten – und damit auch Deutschland und Niedersachsen als Bundesland – „in größtmöglichem Umfang das Überleben und die Entwicklung des Kindes“ gewährleisten. Die Konvention klärt weiterhin das Recht auf Bildung, das Recht auf Beteilung an Freizeit, den Schutz geflüchteter Kinder, das Recht auf Gesundheitsvorsorge, Unterbringung und Soziale Sicherheit. Das Land Niedersachsen ist verantwortlich für das Kindeswohl aller jungen Menschen, die sich hier befinden. Wir appellieren daran, insbesondere in Zeiten der Pandemie und des Krieges in Europa die Gewährleistung des Kindeswohls in das Zentrum aller politischer Entscheidungen in Niedersachsen zu stellen – sowie sich auch auf Bundesebene und in der Europapolitik dafür vehement einzusetzen!


Zur Niedersächsischen Kinder- und Jugendkommission: Die Kinder- und Jugendkommission setzt sich für die Interessen der Kinder und Jugendlichen in Niedersachsen ein und stärkt deren Rechte. Sie ist in ihrer Tätigkeit unabhängig. Der Kommission gehören derzeit 12 Experten Expertinnen an. Die Geschäftsstelle ist im Niedersächsischen Landesjugendamt angesiedelt. Sie hat die Aufgabe

  • durch Öffentlichkeitsarbeit das gesellschaftliche Bewusstsein für die Belange und Rechte der Kinder und Jugendlichen zu verbreitern und zu vertiefen,

  • den Schutz von Kindern und Jugendlichen als zentrale Aufgabe der Gesellschaft zu unterstützen,

  • sich für die Interessen der Kinder und Jugendlichen einzusetzen und diese zur eigenständigen Interessenvertretung zu befähigen, den Kinder- und Jugendrechten zur Geltung zu verhelfen,

  • die Chancengerechtigkeit, deren gesellschaftliche Teilhabe und Partizipation in allen gesellschaftlichen Bereichen zu verbessern und

  • die Anliegen von Kindern und Jugendlichen im Rahmen von Diversität zu vertreten. Darüber hinaus hat sie einen Beratungsauftrag gegenüber der Landesregierung und dem Landtag, unterrichtet diese über ihre Beschlüsse und unterbreitet Vorschläge und Empfehlungen.


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