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Anke Schlicht

Nichts als Mucke, Klamauk und Klamotte


Foto: Schlosstheater Celle

CELLE. Mitsingen, kräftig mitsingen, Mama Strunk wirbt bei den Gästen in der vollbesetzten Halle 19 des Schlosstheaters so energisch um Interaktion, wie man es der kranken Frau gar nicht zugetraut hätte. Das Volkslied „Auf der Lüneburger Heide in dem wunderschönen Land“ verfehlt seine Wirkung nicht und zeigt gleich zum Auftakt der Premiere von „Fleisch ist mein Gemüse“ am Samstagabend unter der Regie des Intendanten Andreas Döring – hier sitzt ein Publikum in Spiel- und Feierlaune, Freibier ist angekündigt für nach der Show.


Folgt man dem gleichnamigen Buch von Heinz Strunk, dann begeben sich weder Mutter noch Sohn Heinzer, wie ihn seine Bandkollegen später nennen werden, hinein in die Mitte, wo das soziale Miteinander sich tummelt. Sie leben eher am Rande im doppelten Sinn, in einem kleinen Reihenhaus in Hamburg-Harburg. „Hamburg, das ist anderswo“, sagt Heinzer irgendwann Mitte der Achtziger, als seine Geschichte, die er ausschließlich aus der Ich-Perspektive erzählt, seinen Anfang nimmt. Er ist 23, bezieht Sozialhilfe, leidet stark unter Akne und auch seine Mutter ist krank - an der Seele, den Vater hat er nie kennengelernt. Außenseitertum und Musik sind Heinzers Begleiter von klein auf, schon früh begann Mama Strunk, von Beruf Musiklehrerin, ihn zu unterrichten, manchmal übte er schon eine Stunde oder zwei vor Schulbeginn. Virtuos spielt er Querflöte und Saxophon. Beste Voraussetzungen, um Mitglied der Tanzband Tiffanys zu werden, sich abzumelden beim Amt und jedes Wochenende Mucke zu machen auf Schützenfesten, Hochzeiten, Betriebsfeiern und anderen Events in der niedersächsischen Provinz. Über ein Jahrzehnt lang ist er regelmäßig an zwei bis drei Tagen pro Woche auf Tour, was er erlebt, mehr noch was er beobachtet und wahrnimmt und was ihm widerfährt oder eben nicht, seine innere Befindlichkeit, schildert der Ich-Erzähler mit größter Offenheit, schonungslos sich selbst und den anderen gegenüber. Darüber hinaus ist das Buch eine dichte Milieubeschreibung.


Viel Stoff - allein aufgrund der vielen Jahre -, den Regisseur und Autor der Bühnenfassung Andreas Döring über weite Strecken kleinteilig nacherzählt und doch nicht vordringt zum Wesen der Geschichte. Als Grundgerüst hätte sie dienen können, die künstlerische Freiheit hätte Spielräume eröffnet, doch der Intendant klebt an der Vorlage, verdichtet nicht, und so müssen er und sein Team mit Matthias Schubert als Dramaturg, Birgit Bott als Verantwortliche für Bühne und Kostüme sowie Moritz Aring als musikalischer Leiter sich messen lassen am Original.


„Wo ist Heinzer?“, möchte man fragen beim Anblick des Spiels von Philipp Keßel als Heinz Strunk. Wer ist dieser brav frisierte, stets gebückt gehende und linkisch agierende Mann in Bundfaltenhose und Pullunder? Sieht so einer aus, der gegen die gesellschaftliche Norm lebt? Der unter der Woche bis nachmittags um drei Uhr schläft, sich jeden Tag Bier holt und nur drauf wartet, dass es endlich Abend, noch besser Nacht wird, damit er sich ab einem gewissen Alkohol-Pegel ausklinken kann aus der Tristesse des Alltags, nicht unwesentlich geprägt von der Nichtbeachtung durch das weibliche Geschlecht. Keßels Heinz ist ein Muttersöhnchen, ein larmoyanter, unsicherer junger Mann, der von seinen Bandkollegen, allen voran Gurki, in den Schatten gestellt wird. Nichts vermittelt sich von der Stärke, dem Riesentalent, der enormen Beobachtungsgabe, die Heinzer in sich trägt, was ihm Überlegenheit verleiht, die er die Kollegen und Freunde allerdings nicht spüren lässt, und die ihn später, im weiteren Verlauf seines Lebens, zum preisgekrönten Schriftsteller werden lässt.


Anders als ihr Sohn geht Verena Saake als Mutter Strunk stets den aufrechten Gang, erhobenen Hauptes gibt sie die strenge, biedere Lehrerin in Strickjacke und schwarzen Pumps, ab und an geplagt von Gewissensbissen, keine gute Mutter zu sein, die sie vor sich herträgt. In dieser Inszenierung müssen die Gedanken, die Umstände, das innere Empfinden in Worte gefasst werden, das Spiel vermittelt sie nicht, transportiert keine Zwischentöne. Mitnichten gelingt Saake die Darstellung einer gebrochenen, kranken, zartbesaiteten Frau. Die Döring’sche Bühnenfassung zeichnet weder Charaktere noch Milieu – einzige Ausnahme Philip Leenders als Gurki, der Bandleader, unterstrichen durch eine kleine Notiz am Rande. Seine weite Jeans steckt stets in flachen Stiefeletten, in der Tat eine Mode der 80er, mit Batikshirt und Schlaghose greift Birgit Bott jedoch so daneben wie der Regisseur mit der Umzieh-Szene. Wie zahlreiche kleine Sequenzen wäre sie verzichtbar gewesen, doch in seiner Ambition der (zu) genauen Nacherzählung nimmt Döring sie auf, ohne auch nur annähernd auf das geschilderte Personal des Originals zurückgreifen zu können. Tiffanys mangelt es an gutaussehenden Mitgliedern, keiner taugt wirklich zum Frontman, Strunk schildert die alles andere als makellosen Körper und Gesichter anlässlich eines Kostümwechsels, alle fünf sind sie weit weg von Gardemaß und Ebenmäßigkeit, ein wenig wohl auch dem stetigen Konsum von Alkoholischem geschuldet. Nicht einmal Stiefeletten-Gurki reicht auf der Bühne der Halle 19 auch nur annähernd heran an diese Unzulänglichkeiten, vielmehr ist die Band unter der musikalischen Leitung von Moritz Aring in ihren pinken Glitzer-Sakkos eine ohne Ecken und Kanten.


Adrett, megagutgelaunt und expressiv im Gebaren spielen sie auf und bilden so intensiv ab, worauf Andreas Döring in dieser Inszenierung setzt – Musik zum Mittanzen und fröhlich sein. Allen voran Heinz, ohne Saxophon oder Flöte, exponiert er sich als Sänger, hampelt und interagiert mit den Zuschauern. Ein Gegenentwurf zu „mittendrin und nie dabei“, wie Heinzer seine Bühnenpräsenz im Buch beschreibt, Lichtjahre entfernt von allem Boulevardhaften, das Dörings Interaktions-Inszenierung anhaftet. Eine Vielzahl von Theaterpersonal bevölkert die Bühne, wenn musikalisch aufgespielt wird, begibt sich in die Reihen der Gäste, reicht die Hand oder auch Tabletts mit Schnapsgläsern, fordert auf zum Mitmachen, läuft nicht ins Leere. Die Profis überzeichnen in ihren tänzerischen Darbietungen, leben sich voll aus, animieren, versuchen sich in Parodie, die mal mehr, mal weniger gelingt.


Am Ende feiert sich das Ensemble selbst und wird gefeiert von einem nach und nach sich erhebenden Publikum, das offenbar mehr als zufrieden ist mit einem Theaterstück, das aus nicht viel mehr besteht als drittklassiger Mucke, Klamauk und Klamotte.

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