CELLE. „Ich rede gerne“, sagt Professor Martin Kirschstein. Nur ein Grund, weshalb sich ein Gespräch mit ihm schnell zu einem entspannten, angenehmen Dialog entwickelt. Umso bemerkenswerter das kurze Zögern, das aufkommt nach dieser Frage und womöglich mehr sagt als die Worte. „Ist es ihm schwer gefallen zu gehen?“ „Ja, man hängt an den Patienten.“ Fast auf den Tag genau vor 23 Jahren begann der gebürtige Hamburger seine Celler Karriere, am 1. März 1999 wurde er Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Allgemeinen Krankenhaus, Ende Dezember schied er aus. Gerade kommt er vom Fototermin, derselbe Fotograf wie damals, als es losging, derselbe Ort – nur der weiße Kittel ist einem dunklen Jackett gewichen. Ein emotionaler Moment für den 65-Jährigen. Die Ergänzung „im Ruhestand“, will nicht recht passen zu dem Gegenüber - zu viel Umtriebigkeit und Ambition.
NEUANFANG NACH KLINIK-KARRIERE
„Ich erinnere noch ganz genau den Tag“, berichtet Kirschstein über die Initialzündung für seinen Plan, politisch aktiv zu werden. „Vor 4 Jahren, ich schaute mir gerade den SPD-Bundesparteitag an, dachte ich darüber nach, was passiert, wenn ich in Rente gehe." Mit den seinerzeitigen Querelen der Sozialdemokraten hatte seine politische Präferenz nichts zu tun, sein Herz schlug schon länger für die Grünen. „In die Partei eingetreten bin ich aber erst im Dezember 2021, als ich in Pension ging“, betont der Professor, der bei der niedersächsischen Landtagswahl im Oktober ein Mandat in Hannover anstrebt.
Berufspolitisch war er seine gesamte Laufbahn über aktiv, hatte den Vorsitz der Vereinigung leitender Kinderärzte Niedersachsen inne und gehörte dem Vorstand der Norddeutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin an. „Ich kenne alle Bereiche, von den Krankenkassen über die Kammern bis zum Ministerium“, berichtet der frühere Chefarzt. Diese Erfahrungen möchte er einbringen in sein politisches Engagement, dessen Schwerpunkt Gesundheit und Pflege bildet. Die Unzufriedenheit vieler Menschen, die sich für pflegende Berufe entschieden haben, führt er auf die Frage, woran unser Gesundheitswesen kranke, als Erstes an: „Wir haben hier ein riesiges Problem, die Pflegekräfte leisten einen unschätzbaren Wert für unsere Gesellschaft, sind aber überlastet und frustriert und kehren ihrem Beruf den Rücken.“ Mit dem Begriff des „marktgerechten Patienten“ umschreibt er die Fehlanreize, die in den vergangenen Jahrzehnten für das Betreiben von Krankenhäusern gesetzt wurden. Es ginge in erster Linie ums Geld, und nicht um das Wohl der Patienten. „Bei der Gesundheit hört die Privatisierung auf“, lautet sein klares Statement.
MEDIZINER AUS LEIDENSCHAFT
Keine Minute hat Martin Kirschstein seine Entscheidung, Arzt zu werden, bereut. „Mit Menschen zu tun zu haben, war mir immer wichtig“, blickt er auf die Zeit der Berufsfindung zurück. Damals lebte er in Hamburg, seine erste Anstellung führte ihn 1984 an die Uniklinik Lübeck, die nächste Station war dann bereits Celle. „Hamburg, Lübeck, Celle – das sind meine Städte.“ Obwohl er Hamburg als seine Lieblingsstadt bezeichnet, gab es nie Überlegungen, dorthin zurückzugehen. „Ich bin Celler, wir fühlen uns sehr wohl hier!“ Gemeinsam mit seiner Frau, die als Grundschullehrerin gearbeitet hat und ebenfalls im vergangenen Jahr in Pension gegangen ist, hat er es sich zur Gewohnheit gemacht, Wandertouren in die einzelnen Stadtteile zu unternehmen. Zehn Kilometer absolviert das Ehepaar bei solchen Ausflügen im Durchschnitt. Für Kirschstein sind dieses im Vergleich zu seinen Joggingrunden entlang der Aller dreimal in der Woche eher kleine Einheiten. Rudern steht ebenfalls auf dem Programm. In der Familie wird Sport großgeschrieben, die beiden Söhne Jonas (33) und David (31) spielten in ihren Jugendjahren sehr erfolgreich Hockey. Mittlerweile ist Martin Kirschstein auch Großvater der anderthalb-jährigen Mathilda.
Der Rückhalt der Familie und die sportliche Betätigung gaben ihm stets die Kraft für seine Arbeit in der Kinder- und Jugendklinik, die er allein durch seine Persönlichkeit, aber auch inhaltlich formte. „Das Spektrum der behandelten Krankheiten ist sehr breit.“ Es gibt Spezialsprechstunden, eine Lehrerin, um Kinder und Jugendliche mit langen Verweilzeiten zu unterrichten. Schon wenige Monate nach seinem Start gründete er Ende 1999 das Sozialpädiatrische Zentrum, besonders stolz ist er auf die Frühgeburten-Station. Die Klinik-Clowns zauberten nicht nur den Kindern ein Lachen ins Gesicht, sie sorgten auch für Aufmerksamkeit in der lokalen Presse. „Bei uns werden ja viele Patienten betreut, die chronisch krank sind und daher immer wieder kommen“, berichtet der Mediziner, „da entsteht ein emotionaler Kontakt zu den Menschen.“ Ein Umstand, der ihm den Abschied umso schwerer machte. Generell ist er jedoch froh, dass es die Einrichtung überhaupt noch gibt. „Kinderkliniken sind überall bedroht, in Niedersachsen schreiben alle rote Zahlen. Chefarzt will keiner mehr werden“, erläutert Martin Kirschstein. Krankhafte Ausprägungen eines Systems, dessen Verbesserung er sich für die Zukunft auf die Fahnen geschrieben hat.
NEULAND POLITIK
Mit seiner Kandidatur für den Landtag betritt er Neuland, der Wahlkampf beginnt erst nach den Sommerferien, aber der emeritierte Professor hat bereits Pläne gemacht. „Ich plane, mir viel anzuschauen, viele Vereine und auch Sozialverbände besuchen, mich vor Ort bei Firmen informieren.“ Dabei hat er auch eine Gruppe im Besonderen im Blick, die altersmäßig das Gegenstück zu seinen früheren Patienten bildet. „Ich möchte mich bei alten Menschen vorstellen.“ Schon jetzt erfährt er von einigen, die ihn kennen, viel Zuspruch und Ermutigung: „Toll, dass Sie sich engagieren“, heißt es des Öfteren. Dazulernen müsse er auf dem Gebiet Social Media: „Da kann ich mich selber noch nicht so einschätzen.“ Seine Söhne erteilen ihm Nachhilfe. Und was wird sein, wenn er es nicht in den Landtag schafft? Hat er einen Plan B? „Ja, die Rudolf Pichlmayr-Stiftung unterhält auf einem Bauernhof in Österreich eine Einrichtung für Kinder und Jugendliche nach Organtransplantationen. Dort möchte ich mitarbeiten.“