CELLE. Es ist ziemlich frisch in der Celler Tafel. In den Lagerhallen liegen riesige Säcke voller Einmalhandschuhe, daneben ungeöffnete Kartons mit medizinischen Masken, die noch vor zwei Jahren begehrte Mangelware waren. Daneben Paletten mit Konserven, Asia-Gemüse in Gläsern, zehn Kisten Knäckebrot, an der Wand ein Plakat: welche Lebensmittel wie lange nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums noch genießbar sind. Marianne Schiano führt die Anwesenden in den nächsten Raum. 1995 gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern der Tafel, inzwischen ist die Ortsbürgermeisterin von Hehlentor 1. Vorsitzende. Viele hundert Menschen holen sich bei der Celler Tafel die gespendeten Lebensmittel ab, seit Beginn des Ukraine-Krieges sind es noch ein paar mehr geworden.
„Und hier“, sagt Marianne Schiano und öffnet eine Tür neben dem großen Kühlaggregat, „würden wir den Gottesdienst stattfinden lassen.“ „Wunde Punkte“ heißt die Andachtsreihe, die 2006 von Pastorin Gabriele Ahnert-Sundermann aus der Taufe gehoben wurde. Die Idee dahinter: Während der Passionszeit sucht die Kirche Ort auf, wo sich Menschen treffen, die oft an die Ränder der Gesellschaft gedrängt worden sind. Während der „Wunde Punkte“-Gottesdienste (die jeweils um 18 Uhr stattfinden) sollen sie und der gastgebende Ort im Mittelpunkt stehen.
Nach zweijähriger Corona-Zwangspause haben sich die Organisatoren um Pastorin Antje Seelemeyer und Pastor i.R. Martin Prüwer für folgende Orte entschieden: Den Anfang macht am Montag, den 11. April 2022 der Anne-Frank-Saal im Urbanus-Rhegius-Haus in der Fritzenwiese 9. „Angenommen?! Schwangerschaftskonfliktberatung im Ev. Beratungszentrum“ lautet der Titel der Andacht, die sich dem Thema der ungewollten Schwangerschaften widmet. „Viele Frauen stellt das vor eine schwierige Situation, die öffentlich aber weitestgehend verschwiegen wird“, erklärt Antje Seelemeyer. Einen Tag später, am 12. April, findet die Passionsandacht in der Zweigstelle Celle der Staatsanwaltschaft Lüneburg statt (Im Werder 5). Das Thema „Strafe oder Täter-Opfer-Ausgleich“ sucht nach einer Verständigung und Gerechtigkeit für Opfer einer Straftat.
„Die Andachtsreihe hat viele Ansätze“, sagt Antje Seelemeyer, „wir wollen Orte würdigen, die ganz zielgerichtet Hilfe anbieten und somit den diakonischen Gedanken der Kirche in die Tat umsetzen. Gleichzeitig bieten die Gottesdienste für die Besucher*innen die Möglichkeit, Orte ihrer Stadt kennenzulernen, die ihnen bislang fremd waren.“ So wie am Mittwoch, den 13. April. Dann ist der Harburger Berg 20 und das dort ansässige Substitutionsprogramm Gastgeber für den Abend. Das Motto für die Andacht: „Ein Schluck vom Alltag entfernt“. Tags darauf soll es dann „Hoffnungsschimmer“ in der Celler Tafel geben – beim Gottesdienst bietet sich für Mariane Schiano und ihre Mistreiter*innen auch die Chance, die eigene ehrenamtliche Arbeit ins kollektive Bewusstsein zu bringen: „Da entwickelt die Kirche ihre ganz eigene Kraft – nämlich die Menschen zusammen zu bringen und die Gemeinschaft zu fördern.“ Helmut Geiger, Pastor i.R., der die „Wunde Punkte“-Reihe seit Beginn begleitet, ergänzt: „Den Finger in die Wunden der Gesellschaft legen, dorthin zu gehen, wo menschliches Leid ist und fähig sein, das wahrzunehmen – auch darum geht es.“
Für Mit-Organisator Martin Prüwer bietet die Andachtsreihe auch eine besondere Chance für die Kirche selbst: „Es ist wichtig, dass wir nicht nur in unseren kirchlichen Einrichtungen bleiben, und warten, dass die Menschen zu uns kommen, sondern selbst zu den Menschen gehen.“ So wie am Karfreitag den 15. April in der Martin-Buber-Klause in Lobetal, Fuhrberger Straße 219. Thema des Tages: „Hallo Martin, wie geht´s?“ Die Martin-Buber-Klause ermöglicht unbeschwertes Beisammensein für Menschen, die mit einem Handicap ihren Alltag leben. Den Abschluss der „Wunden Punkte“ macht der Gottesdienst „Sag mir, wo die Gräber sind…“ auf dem Neustädter Friedhof in der Kuckuckstraße. Auf diesem ziemlich vergessenen und eher unbekannten Friedhof soll am Samstag, den 16. April, der Frage nachgegangen werden, wie wir mit unseren Toten umgehen und wie sich die Friedhofskultur in den vergangenen Jahren verändert hat.
Noch rattert der Motor für die gigantischen Kühltruhen im Hinterhof der Celler Tafel. Am 14. April werden hier die Menschen zusammenkommen und eine Andacht der ganz besonderen Art feiern. Passend zur Grundidee der Tafel natürlich mit einem Abendmahl. „Auch das ist ja Kirche“, sagt Martin Prüwer, „die Stärkung von Seele – und Leib.“ Text: Alex Raack