CELLE. Wie können wir den deutschen Zivilprozess im digitalen Zeitalter zukunftsfähig machen? Darüber diskutieren Expertinnen und Experten aus Justiz, Rechtsanwaltschaft und Wissenschaft seit Beginn des Jahres intensiv – und haben im Oberlandesgericht Celle nun die Ergebnisse vorgestellt.
Das Bundesverfassungsgericht muss besser vor dem Einfluss demokratiefeindlicher Kräfte geschützt werden. Darin sind sich viele in der öffentlichen Diskussion einig. Doch braucht es nicht auch an anderer Stelle, etwa in der Zivilgerichtsbarkeit, einer Stärkung der Resilienz? Diese Frage steht am Ende des Kongresses im Oberlandesgericht Celle. Am Samstag, 16. November, sind dort etwa 90 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zusammengekommen, um unter Federführung der Oberlandesgerichte Düsseldorf und Celle ihre konkreten Reformvorschläge für einen „Zivilprozess der Zukunft“ zu präsentieren und zu diskutieren.
„Eine moderne, effiziente, transparente und vor allem bürgernahe Ziviljustiz – auch das stärkt unsere Gerichte, unseren Rechtsstaat und damit auch unsere Demokratie“, sagt Stefanie Otte, Präsidentin des Oberlandesgerichts Celle. Das Ziel der von den Obergerichten initiierten Diskussion: ein modernes Bild des Zivilverfahrens im digitalen Zeitalter zu entwerfen. Darüber diskutieren seit Anfang des Jahres Expertinnen und Experten aus der Justiz, aber auch aus der Rechtsanwaltschaft und Wissenschaft. „Wir brauchen angesichts einer digitalisierten Welt dringend Reformen, um den Zivilprozess zukunftsfähig zu machen“, sagt Dr. Werner Richter, Präsident des Oberlandesgerichts GEMEINSAME PRESSEMITTEILUNG Düsseldorf. „Deswegen freuen wir uns umso mehr, dass wir so vielen namhaften Expertinnen und Experten aus den verschiedenen Disziplinen ein Forum bieten können.“
In drei Arbeitsgruppen „Zugang zum Recht“, „Qualität und Effizienz der Rechtsprechung“ und „Wirtschaftsrechtliche Streitigkeiten“ präsentierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei der Abschlussveranstaltung ihre Vorschläge für einen modernen Zivilprozess. Die Ergebnisse im Überblick:
Der Zugang zum Recht muss einfacher und offener gestaltet werden – digital und analog
Die Mitglieder der Arbeitsgruppe „Zugang zum Recht“ schlagen ein bundeseinheitliches Justizportal als zentrale Anlaufstelle für Bürgerinnen und Bürger vor, das die digitalen Dienstleistungen der Justiz einheitlich zusammenfasst. Eine zeitgemäße und benutzerfreundliche Kommunikationsplattform soll perspektivisch den elektronischen Rechtsverkehr ersetzen und so auch den Austausch zwischen den Verfahrensbeteiligten und dem Gericht erleichtern, findet die Arbeitsgruppe unter Leitung von Stefanie Otte und Prof. Dr. Thomas Riehm.
Zudem soll ein besonderes Online-Verfahren geschaffen werden, das einen niedrigschwelligen und günstigeren Zugang zum Recht ermöglicht. Die Justizsysteme sollen – ähnlich wie in der Anwaltschaft bereits üblich - strukturierte Daten verarbeiten können und so effizienter werden. Es besteht allerdings auch Einigkeit dahin, dass die Digitalisierung kein Selbstzweck ist. Der Zugang zum Recht soll daher auch jenseits digitaler Lösungen erleichtert werden.
Der Zivilprozess muss effizienter werden, gleichzeitig muss die hohe Qualität der Rechtsprechung garantiert werden
Mit verschiedenen Maßnahmen soll der Zivilprozess nach dem Willen der Arbeitsgruppe „Qualität und Effizienz der Rechtsprechung“ einfacher und effizienter gestaltet werden. So soll durch Änderungen im Prozessrecht unter anderem langen Verfahrensdauern noch besser entgegengewirkt werden und Komplexitäten abgebaut werden. Zudem schlägt die Arbeitsgruppe unter Leitung der Präsidentin des Hanseatischen Oberlandesgerichts Bremen, Ann-Marie Wolff, und des Präsidenten des Oberlandesgerichts Nürnberg, Dr. Thomas Dickert, mehr Strukturierung des Verfahrens sowohl durch das Gericht als auch die Verfahrensbeteiligten vor.
Mithilfe weiterer Spezialzuständigkeiten bei den Amts- und Landgerichten, aber beispielsweise auch durch die Stärkung der Kammern an den Landgerichten und einer Fortbildungspflicht, soll eine höhere Qualität der Rechtsprechung gesichert werden. Zugleich können dadurch Massenverfahren, wie zuletzt die Diesel-Verfahren, bei den Gerichten konzentriert werden.
Um mehr Transparenz der Rechtsprechung zu erreichen, sollen mehr Entscheidungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Wirtschaftsrechtliche Streitigkeiten bedürfen einer Neuausrichtung und müssen internationaler werden Gerichtliche Entscheidungen prägen die Wirtschaftsordnung. Eine schnelle, effiziente und transparente Verfahrensführung mit qualitativ hochwertiger und überzeugender Rechtsprechung ist ein Standortfaktor. Darin sind sich die Mitglieder der Arbeitsgruppe „Wirtschaftsrechtliche Streitigkeiten“ unter Leitung von Dr. Werner Richter und dem Präsidenten des Oberlandesgerichts Stuttgart, Dr. Andreas Singer, einig.
Ein besonderer Fokus soll neben der bereits beschlossenen Einführung von Commercial Courts auf der Stärkung der Kammern für Handelssachen liegen, deren Zuständigkeit und Besetzung reformiert werden sollen. Zugleich soll durch Konzentrationen bei Gerichten und Fortbildungen die Spezialisierung sichergestellt werden. Grenzüberschreitende Verfahren müssen zudem schnell und effektiv bearbeitet werden, etwa durch die Verfahrensführung auf Englisch und die Möglichkeit, Videoverhandlungen durchzuführen.
Alle Ergebnisse werden im Detail veröffentlicht
Alle Ergebnisse im Detail werden zeitnah in einem Tagungsband zusammengefasst und veröffentlicht. „Die Diskussion um die Ausgestaltung eines modernen Zivilprozesses ist noch lange nicht beendet, sie wird sich durch die neuen technischen Möglichkeiten auch immer wieder verändern“, sagt Stefanie Otte. „Wir hoffen, dass unsere Vorschläge und Ideen auch Anklang bei der Bund-Länder-Reformkommission finden.“
Genug Inspiration für Veränderungsprozesse gab es bereits zu Beginn der Veranstaltung: Bei Kurzvorträgen informierten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer unter anderem über die Plattformlösung für Klagen in Dänemark, die Justizdigitalisierung in Österreich und der Schweiz, die Überlegungen der EU-Kommission im Bereich der Digitalisierung der Justiz und die Digitalisierungsprojekte des Bundes. Dass die Debatte über den „Zivilprozess der Zukunft“ weitergehen wird, zeigte auch die abschließende Podiumsdiskussion im Anschluss unter der Moderation von Dr. Cord Brügmann von der Stiftung Forum Recht. Mit dabei war unter anderem auch der Staatssekretär Dr. Thomas Smollich vom Niedersächsischen Justizministerium.
Eine gemeinsame Initiative der Obergerichte: „Zivilprozess der Zukunft“
„Zivilprozess der Zukunft" geht auf eine gemeinsame Initiative der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichtshofs zurück. Im Rahmen der Auftaktveranstaltung am Oberlandesgericht Düsseldorf im März dieses Jahres wurden Vorschläge diskutiert und erste Eckpunkte entworfen, die in einem Tagungsband veröffentlicht wurden. Auf Grundlage dieser Ergebnisse beschlossen die Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landgerichts und des Bundesgerichtshofs die Münchener Thesen zum Zivilprozess der Zukunft bei ihrer Jahrestagung im Mai 2024 in München.
Text: Oberlandesgericht Celle